VOM ÄSTHETISCHEN KOSMOS DER GÄNSEBLÜMCHEN

 

„Ob wir das Wachsen einer Pflanze mit dem Zeitraffer beschleunigen oder ihre Gestalt in vierzig facher Vergrößerung zeigen – in beiden Fällen zischt an Stellen des Daseins, von denen wir es am wenigsten dachten, ein Geysir neuer Bildwelten auf.“ 

Walter Benjamin: „Kleine Geschichte der Photografie“

 

Die faszinierende Welt der Pflanzen ist in der Kunst in vielen Epochen und Gattungen Thema und dient bis heute der künstlerischen Inspiration. Pflanzen waren für den Menschen nicht nur Nahrungsmittel, sie galten schon in der Antike als ästhetisches Objekt und Ornament. Seit der Renaissance war ein wissenschaftliches Interesse an der Flora vorrangig. Im 16. Jahr­hundert erfasste man die Welt der Pflanzen enzyklopädisch. In der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts war die Gattung des Blumenstilllebens mit vielschichtigen metaphorischen Inhalten maßgebend. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Blüten und Früchte detailgenau akademisch illustriert. Albrecht Dürer, Sybilla Merian, Ernst Haeckel und Karl Blossfeldt sind die bekanntesten Vertreter in der deutschen Kunstgeschichte, die sich intensiv mit botanischen Darstellungen befassten. 

 

Mathias Hesselings Interesse an seinen Motiven ist nicht primär biologisch geprägt. Er verwendet beruflich vergrößernde optische Hilfsmittel und ­betrachtet, forscht, analysiert und operiert auch unter Verwendung von ­Ma­kroaufnahmen. Dieser wissenschaftlich medizinische Blick auf die Anatomie des Menschen war die Initialzündung für seine Pflanzenbilder. Ob Silberwurz, Salbei oder Löwenzahn: Als Künstler hat Hesseling eindrucksvolle Serien heimischer Vegetation geschaffen, die er isoliert vor einem ­monochromen Bildgrund portraitiert.

 

Seinen Fundus findet er im heimischen Garten oder beim Spaziergang in der Umgebung. Er sucht keine außergewöhnlichen exotischen Gewächse, sondern pflückt und sammelt profane Pflanzen und Gräser, die wir auf jeder Wiese finden können. Die gefundenen floralen Objekte dienen als Protagonisten der außergewöhnlichen Bildwelten, die am Computer entstehen. Natur wird mittels Technik zur Kunst. Kunst wiederum ist offenbar nichts als Natur. 

 

„Was die Werke der Kunst von der Natur unterscheidet, ist Resultat des schöpferischen Aktes: Prägung einer eigengestalteten Form, das Neu­gezeugte, nicht Nachgeschaffene oder Wiederholte. Kunst entspringt unmittelbar dem gegenwärtigsten Kraftstrom der Zeit, deren sichtbarster Ausdruck sie ist. Sowie die Zeitlosigkeit eines Grashalms monumental und verehrungswürdig als Symbol ewiger Urgesetze allen Lebens erscheint, so wirkt das Kunstwerk erschütternd gerade durch seine Einmaligkeit als konzentrierteste Manifestation, als Lichtbogen zwischen den beiden Polen.“ 

Karl Nierendorf, Einleitung zu Karl Blossfeldt: „Urformen der Kunst“, 1928

 

Mathias Hesseling selektiert, kombiniert und komponiert wundervolle ­Arrangements aus Blumen, Stängeln und Halmen, Blättern und Gräsern. Der konsequent schwarze Hintergrund rückt die Modelle konzentriert in den Fokus unserer Wahrnehmung. Glockenblumen oder Astilben treiben scheinbar schwerelos im dunklen Bildraum und sind formal, durch die akkurate Strenge der Anordnung, dennoch fest verankert. Jeder Stängel wird digital begradigt und vermittelt so statische Ruhe. Natur wird konstruiert, manipuliert und idealisiert. 

 

Ringelblumen füllen das quadratische Format und variieren nur durch ihre Größe. Manche ragen bis an den oberen Bildrand, andere wachsen kaum über die untere Bildgrenze hinaus. Alle miteinander ergänzen sich zu einem rhythmischen, kompakten Gefüge aus grünen Geraden und orangen Farbpunkten. Die gleichmäßige Komposition schafft Harmonie.

 

Die Haltung der Stiele wirkt auf einigen Bildern nahezu stoisch diszipliniert. Schon eine nuancierte Bewegung führt zum Ausdruck emotionaler Befindlichkeiten. Klee kann neugierig in den dunklen Bildraum ragen, sich aber ebenso in nahezu ängstlicher Verhaltenheit zur Seite ducken. In zartem Rosa vermittelt Medinilla feminine Grazie und zurückhaltende Schüchternheit. Die Blüte windet sich kokett vor unseren Blicken und scheint sich ihrer Anmut bewusst zu sein. 

 

Die schwarzen Bildbühnen dienen als Kulisse spannender Inszenierungen, in der Tomate und Tollkirsche als Akteure mit eigener Körpersprache auftreten und Gefühle wie Angst, Mut, Stolz oder Neugierde vermitteln. Die Lichtführung im Bild sorgt für eindrucksvolle Wirkungen. Jedes Detail eines Blattes wird ausgeleuchtet und offenbart die Fragilität der Natur, enthüllt aber auch ihre monumentale Stärke. 

 

Das filigrane Bildpersonal taucht auch in der Gruppe auf, neigt sich einander zu oder wendet sich voneinander ab, tritt in imaginäre Dialoge und gewinnt so individuellen Charakter, mit fast menschlich berührenden Zügen. Verblühte Blumenkelche werden so kunstvoll hintereinander aufgereiht und ausgeleuchtet, dass sie an ein Tanzensemble im Theater erinnern. Die Bewegungen sind nur gering variierend, leicht vorwärts oder rückwärts geneigt, aber stets in kontrollierter Körperspannung und der Anordnung der Komposition folgend. 

 

Blüten und Knospen bevölkern den zentralen Bildraum aber auch als un­sortierte Menge, ohne gleichmäßige Gliederung. Die Kumulation der Gänseblümchen, Kamillenblüten oder verblühten Kapseln verbindet mehrteilige Vielheit zu organisch geformter Einheit. Es entstehen fantastische Gebilde mit spannenden Konstitutionen. 

Die Bedeutung der identifizierbaren Gewächse ist unwesentlich, denn sie übernehmen hier die Aufgabe einer abstrakten Bildsprache und fungieren im Wesentlichen als Linien, Flächen, Kreise, Ellipsen und Rauten. Die ­Farbigkeit der Einzelkomponenten kann sowohl strahlend gelb und leuchtend das Licht und das Leben symbolisieren, ebenso aber braun und vergilbend den Tod versinnbildlichen. 

 

Der Aspekt der Vergänglichkeit spiegelt sich auch in den Serien der ­Hibiskusblüten, deren Stofflichkeit dem Künstler mit dem Verwelken immer interessanter erscheint. Die tiefrote Farbigkeit und die Oberflächeneigenschaften kurz nach der Blüte haben malerische Qualität und erinnern an die Materialität edler Kleider. Silhouette und Textur erscheinen wie drapierte Faltenwürfe barocker Gemälde und vermitteln tänzerische Dynamik. Der Stempel fungiert als zentraler, vertikaler Ruhepol. Im Gegensatz zum kraftvoll lebendigen Rot stehen die verwelkenden rostfarbenen Blüten als ­Metapher für die Sterblichkeit. Das pralle Leben scheint auf dem Rückzug, die ­Farben sind verblasst. Das sichtbar gewordene Faulen und Verfallen deutet das Ende der Blüten an und ist ebenso Zeugnis ihrer morbiden Eleganz. 

 

Die Spanne zwischen Entstehen und Vergehen thematisieren die Bilder der Grüngewächse, die der Künstler mitsamt Wurzelwerk abbildet, das sich nicht sichtbar im Erdreich verbirgt. Das komplexe System aus verzweigten­ ­Sprossen, erdigen Strängen und zarten Wurzelhärchen zeigt sich als kunstvolles Geflecht. Für das Wachstum und Leben der Pflanzen sind die unterirdischen Organe existenziell notwendig. Die Aufnahme von Wasser und Mineralstoffen erfolgt über beeindruckend funktionierende Strategien der Natur. Ohne die gravitrope Verankerung in der Erde gäbe es kein ­phototropes Streben zum Licht und zum Leben. Der vermeintliche Gegensatz orientiert sich an einem imaginären Bildhorizont, der die Verästelungen im Boden formal von den wuchernden Blättern trennt. Real funktionieren beide Pflanzenteile nur miteinander. Die feingliedrigen Konstruktionen unter der Erde sind lebensnotwendig für das üppige Grün und stehen allegorisch für Gedeihen und Fruchtbarkeit.

 

Mathias Hesseling verzichtet gelegentlich auf den Einsatz von Farbe. Die minimalistische schwarzweiße Bildsprache intensiviert die Wirkung der Oberflächen und hebt ihre plastischen Strukturen deutlich hervor. Akzentuiert beleuchtete Kugeldisteln schweben wie astronomische Gebilde im Weltraum und entfliehen ihrer ursprünglich botanischen Herkunft. Der Künstler verhilft den Objekten zu neuer Bestimmung im Kosmos seiner Kunst. Natur folgt den Prinzipien der Ästhetik und gelangt zu individueller Ordnung, die effektvoll und nachhaltig fasziniert.

 

Gisela Elbracht-Iglhaut

Kunstmuseum Solingen

FROM THE AESTHETIC COSMOS OF DAISIES

 

“Whether we accelerate a plant’s growth with a time-lapse camera or present its form for viewing at 40x magnification – the result in both cases is a geyser of new imagery gushing forth at points of existence where we least expect it.

Walter Benjamin: “Short History of Photography”, Ann. 1 

 

The fascinating world of plants within the arts is a theme in many eras and genres and to this day serves as artistic inspiration. Plants were not only a source of food to human beings, but were already considered an aesthetic object and ornament in ancient times. A scientific interest in flora has been paramount since the Renaissance. In the 16th century, the plant world was recorded encyclopaedically. In 17th century Dutch painting, floral still life with multi-faceted metaphoric content was the authoritative art form. In the 18th and 19th century, blossoms and fruits were academically illustrated in minute detail. Albrecht Dürer, Sybilla Merian, Ernst Haeckel and Karl Blossfelt are the most well known representatives of German art history who dealt intensively with botanic depiction. 

 

Mathias Hesseling’s interests in his motifs are not primarily biologically ­shaped. In his profession, he employs magnifying optical tools and observes, researches, analyses and operates using extreme close-ups. This scientific medical regard of the human anatomy was the initial spark for his plant images. Whether mountain avens, sage or dandelion; as an artist, Hesseling has created impressive series of endemic vegetation, which he portrays isolated before a monochrome background.  

 

He finds his fundus in his own garden or when out walking in the neighbourhood. He does not seek unusual exotic plants, but picks and gathers profane plants and grasses that we can find in any meadow. The encoun­tered floral objects serve as protagonists for the unusual pictorial worlds that come into being on the computer. Nature becomes art through technology. Art on the other hand is nothing but nature. 

 

“That which differentiates works of art from nature is the result of the ­creative act: Characterisation of a self-made form, the newly created, not copied or repeated. Art arises directly from the most contemporary source of power of time, whose most visible expression it is. Just as the timelessness of a blade of grass seems to be monumental and venerable as a symbol of perpetual primordial laws of all life, so the work of art appears shocking precisely through its uniqueness as the most concentrated manifestation, as an arc between the two poles.” 

Karl Nierendorff, Introduction to Karl Blossfeldt: “Urformen der Kunst”, 1928

 

Mathias Hesseling selects, combines and composes wonderful arrangements of flowers, stems and blades, leaves and grasses. The consequential black background shifts the model intently into the focus of our perception. Bluebells or astilbes seem to drift weightlessly in the dark visual space and are formal through the accurate rigour of the arrangement, yet firmly esta­blished. Each stem is digitally straightened and so transmits static calm. Nature is constructed, manipulated and idealised. 

 

Marigolds fill the quadratic format and only vary in their size. Some loom up to the upper picture margin, others barely rise over the lower picture margin. All of them together complement each other to a rhythmic, compact structure of green straights and orange dots of colour. The uniform composition creates harmony. 

 

In some images, the stem’s posture seems almost stoically disciplined. Even a nuanced movement leads to the expression of an emotional state. Clover can protrude inquisitively into the visual space, but can equally cower to the side in almost timid restraint. In delicate pink, Medinilla imparts feminine grace and reserved shyness. The blossom twists coyly from our gaze and seems to be aware of its grace.  

 

The black visual settings serve as a backdrop for fascinating stagings where tomato and deadly nightshade appear as actors with individual body language, conveying emotions such as fear, courage, pride or curiosity. The directed lighting within the image ensures a striking effect. Each detail of a leaf is illuminated and reveals the fragility of nature, yet also exposes its monumental strength. 

 

The delicate visual protagonists also appear in the group, leaning towards one another or turning away from each other, entering into an imaginary dialogue and so becoming individual personalities, with near human traits. Withered calyxes are artistically lined up in a row and illuminated reminiscent of a theatre dance group. The movements only vary marginally, tilted slightly forwards or backwards, but always with controlled body tension, following the arrangement of the composition. 

 

Blossoms and buds populate the central visual space but again as an unsorted assemblage, without uniform structure. The accumulation of daisies, camomile blossoms or withered capsules connects multiplicity in several parts to an organically formed unit. This results in stunning formations with fascinating constructions. 

The significance of the identifiable plants is immaterial here, as they take on the function of abstract visual imagery and essentially act as lines, surfaces, circles, ellipses and rhombuses. The colourfulness of the individual components can equally symbolise light and life in bright luminous yellow or allegorise death, brown and yellowing. 

 

The aspect of ephemerality is also reflected in the hibiscus blossom series, whose materiality during withering appears evermore interesting to the ­artist. The deep red colourfulness and the surface properties shortly after flowering have pictorial qualities and are reminiscent of the materiality of fine clothing. Silhouette and texture seem like draperies in baroque paintings and convey dance-like dynamism. The stem acts as a central, vertical haven of peace. In contrast to the strong vibrant red, the withering rust ­coloured blossoms stand as a metaphor for mortality. Vibrant life seems to be retreating, the colours have faded. The manifested rot and decay alludes to the end of the blossoms and is similarly testimony of their morbid elegance. 

 

The margin between emergence and decay is broached by the images of greenery, which the artist depicts together with the roots that are concealed in the soil. The complex system of branched shoots, earthy cords and ­delicate root hairs appears as an artistic mesh. The subterranean organs are existential for the growth and life of the plant. The absorption of water and minerals takes place through nature’s impressive functioning strategies. 

Without gravitropic anchorage in the soil, there would be no phototropic striving towards light and life. The supposed contrast orientates itself around an imaginary image horizon, which formally separates the branching in the ground from the proliferating leaves. The delicate underground construction is vital for the sumptuous green and alludes allegorically to prosperity and fertility. 

 

Mathias Hesseling sometimes dispenses with the use of colour. The minimalistic monochrome visual imagery intensifies the effect of the surfaces and significantly highlights their sculptural structures. Accented illuminated globe thistles float like astronomical entities in space and escape their ­original botanical provenance. The artist helps the objects find a new pur­­pose within the cosmos of his art. Nature follows the aesthetic principles and arrives at an individual order that captivates effectively and sustainably.

 

Gisela Elbracht-Iglhaut

Kunstmuseum Solingen